Digitale Kindheit: Zwischen Medienkompetenz und Mediensucht?

In unserer heutigen digitalen Welt sind Kinder und Jugendliche zunehmend von Bildschirmmedien umgeben. Laut der Bayerischen Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen zeigen neurobiologische Studien ähnliche biologische Prozesse bei der Internetsucht wie bei substanzgebundenen Süchten.

Internetnutzung und digitale Abhängigkeit unter Jugendlichen

Aktuelle Untersuchungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) von Dezember 2020 zeigen:

  • 83,8 % der Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren nutzen das Internet täglich zur Kommunikation über verschiedene Plattformen wie Chats, E-Mails, WhatsApp, Instagram, Snapchat und Facebook.
  • Nur ein kleiner Prozentsatz, 2,4 % der Jugendlichen, verzichtet komplett auf die Nutzung des Internets für Kommunikationszwecke.
  • Das Internet wird von etwa drei Vierteln (76,6 %) der Jugendlichen täglich als Unterhaltungsmedium genutzt, etwa für Musik, Videostreaming oder zum Surfen.
  • Im Gegensatz dazu nutzen nur etwa die Hälfte (47,8 %) der Jugendlichen das Internet täglich zur Informationsbeschaffung, beispielsweise durch die Nutzung von Wikipedia, Suchmaschinen wie Google, YouTube-Videos oder Nachrichtenseiten.
  • Laut einem Artikel von Compare Camp sind 61 % aller Internetnutzer von diesem Medium abhängig, und die Sucht kann in jedem Alter auftreten.
  • Internationale Untersuchungen zeigen, dass die durchschnittliche Person täglich mehr Zeit vor elektronischen Geräten verbringt als im Schlaf, nämlich 8 Stunden und 41 Minuten.

Angesichts dieser Daten ist es kaum verwunderlich, dass das Internet einen wichtigen Teil der Freizeit von Jugendlichen ausmacht. Erwachsene, insbesondere Eltern und Lehrkräfte, sind besorgt, da der rasante technologische Fortschritt es schwierig macht, den Überblick über die digitalen Gewohnheiten der jungen Generation zu behalten. Die Suchtgefahr, die mit der Mediennutzung einhergeht, ist eine große Sorge für viele Eltern.

Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, präventive Maßnahmen frühzeitig einzuführen und Jugendlichen einen verantwortungsvollen Umgang mit Online-Angeboten und digitalen Medien beizubringen. Frühzeitige Interventionen sollten als grundlegender Bestandteil der Medienpädagogik angesehen werden.

Die Psychologie der Internetsucht:

Von Euphorie, Belohnungssystemen und emotionalen Bindungen zur digitalen Welt

Genau wie bei anderen Störungen lässt sich die Ursache der Internetabhängigkeitsstörung nicht eindeutig feststellen. Es gibt Studien, die Einflussfaktoren wie Einsamkeit, Flucht aus der Realität, Suche nach Belohnung oder Anerkennung näher in Betracht ziehen, es gibt allerdings kein einheitliches Bild möglicher Gründe.
Die Auslöser oder Ursachen für Internetabhängigkeit können vielfältig und komplex sein. Als gesichert gilt aber, dass Online-Aktivitäten oft Euphorie erzeugen.

Diese Euphorie kann so überwältigend sein, dass die Nutzer oft keine objektive Wahrnehmung mehr haben, wie viel Zeit sie tatsächlich online verbringen. Durch das Scrollen zahlreicher Videos, durch Spielen oder Surfen kann das Gehirn mit angenehmen Gefühlen überflutet werden. Diese euphorischen Gefühle können so verlockend sein, dass die Nutzer sich dazu verleitet fühlen, buchstäblich an ihren Computer- oder Smartphone-Bildschirmen "zu kleben".

In einem Artikel, der von Bert Theodor te Wildt, einem Mitglied der Fachorganisation für Medienabhängigkeit, verfasst wurde, werden drei miteinander verknüpfte Erklärungsmodelle für Internetabhängigkeit vorgestellt. Erstens spricht der neurobiologische Ansatz davon, wie unser Gehirn und bestimmte chemische Prozesse uns dazu veranlassen, immer wieder ins Internet zu gehen. Zweitens beschreibt der lerntheoretische Ansatz, wie wir durch positive und negative Erlebnisse dazu "trainiert" werden, immer wieder online zu gehen. Drittens zeigt der tiefenpsychologische Ansatz auf, dass die Internetabhängigkeit oft nur ein Symptom tiefer liegender psychischer Probleme ist, die mit persönlichen Entwicklungen und der Bewältigung von Konflikten zusammenhängen. Der Artikel hebt auch hervor, wie digitale Medien eine neue Ebene der Interaktion und ständigen Verfügbarkeit geschaffen haben, die eine starke Verbindung zwischen Nutzern und Medien ermöglicht. Diese Medien ermöglichen es den Nutzern, virtuelle Erfahrungen zu machen, die in der realen Welt bisher nicht möglich oder sogar verboten waren, was letztendlich unser Gehirn auf eine Weise stimuliert, die uns belohnt und uns ermutigt, diese Erfahrungen immer wieder zu suchen.

In ähnlicher Weise wie bei Abhängigkeiten von Drogen oder Glücksspiel kann Internetsucht durch die Aktivierung von Belohnungssystemen im Gehirn entstehen, besonders durch die Freisetzung von Dopamin und endogenen Opioiden sowie anderer neurochemischen Substanzen. Laut einer Studie mit dem Titel "Internet Addiction: A Brief Summary of Research and Practice" könnten über die Zeit hinweg die dazugehörigen Rezeptoren beeinträchtigt werden, was zu Toleranzentwicklung führt oder den Bedarf an verstärkter Stimulation des Belohnungszentrums erhöht, um ein "Hochgefühl" zu erzeugen und die typischen Verhaltensmuster zu vermeiden, die nötig sind, um Entzugssymptome zu umgehen.

Die Internetnutzung könnte dazu führen, dass in einem bestimmten Teil des Gehirns, dem sogenannten Nucleus Accumbens, Dopamin freigesetzt wird. Dieser Teil des Gehirns spielt auch bei anderen Suchterkrankungen eine wichtige Rolle.

Die Studie stellt auch die Frage: „Was macht die Nutzung von Internet und Videospielen so attraktiv, dass sie zur Sucht werden könnte?“ Es wird hier angenommen, dass Anwender digitaler Technologie unterschiedliche Stufen von Belohnung erleben, wenn sie verschiedene Computerprogramme nutzen. Unabhängig von der Art der Anwendung (allgemeines Surfen, Pornografie, Chats, Foren, Soziale Netzwerke, Videospiele, E-Mail, Textnachrichten, Cloud-Anwendungen und Spiele, usw.) fördern diese Aktivitäten unvorhersehbare und wechselnde Belohnungsstrukturen. Die empfundene Belohnung wird verstärkt, wenn sie mit Inhalten verbunden ist, die die Stimmung aufhellen oder stimulieren. Beispiele hierfür sind Pornografie (sexuelle Anregung), Videospiele (soziale Belohnungen, Identifikation mit einem Helden, immersive Grafiken), Dating-Webseiten (romantische Fantasie), Online-Poker (finanzielle Anreize) und spezielle Chaträume oder Foren (Gefühl der Zugehörigkeit).

Bert Theodor te Wildt betont, dass unter dem Gesichtspunkt der Lerntheorie verschiedene im Internet wahrgenommene Reize oder Emotionen als positive Verstärkung für die Internetsucht wirken können. Unangenehme Erfahrungen in der realen Welt könnten Nutzer dazu verleiten, diese durch positive Erlebnisse im virtuellen Raum zu kompensieren. Dies kann einen Kreislauf in Gang setzen, der die Internetsucht weiter vorantreibt. Nach dem tiefenpsychologischen Verständnis manifestiert sich eine Internetsucht als Ausdruck tieferliegender emotionaler Probleme. Es ist allerdings zu bemerken, dass einige Wissenschaftler festgestellt haben, dass in einigen Fällen eine Internetsucht gemeinsam mit anderen psychischen Störungen auftritt.

Prävention von Mediensucht: Strategien zur Bewältigung der digitalen Abhängigkeit

Die KIM-Studie 2022 verdeutlicht einen ansteigenden Trend in der Internetnutzung unter Kindern unterschiedlichen Alters im Vergleichszeitraum von 2016 bis 2022. Besonders beliebt sind dabei Plattformen wie TikTok, YouTube, Instagram und WhatsApp. Diese Statistiken unterstreichen den wachsenden Einfluss digitaler Technologien und die damit verbundene Notwendigkeit, deren potenzielle Auswirkungen zu verstehen und adäquat zu handhaben.

Hierbei können zahlreiche Akteure, darunter Bildungseinrichtungen, Eltern und Familien sowie soziale Einrichtungen präventive Maßnahmen ergreifen, um die Medienkompetenz zu stärken. Schulungen für Lehrkräfte, Workshops für Schüler und Informationsveranstaltungen für Eltern sind nur einige Beispiele. Die Stärkung der Medienkompetenz kann helfen, Kinder und Jugendliche besser auf das Leben in der digitalen Gesellschaft vorzubereiten.

Gleichzeitig ist die aktive Beteiligung von Eltern und Familien unerlässlich. Durch medienpädagogische Arbeit können sie dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Technologien erlernen. Dies kann durch klare Regeln für die Nutzung des Internets, verschiedener Plattformen und Apps sowie das Einrichten von technologiefreien Zonen und Zeiten erfolgen.

In einem Interview gibt Bert Theodor te Wildt zahlreiche nützliche Empfehlungen, um Internetabhängigkeit und exzessive Internetnutzung zu vermeiden. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Notwendigkeit von Zeiten und Orten, an denen man sich nicht auf digitale Geräte konzentriert. Er empfiehlt, Zeiten und Orte festzulegen, an denen digitale Geräte ausgeschaltet sind, um Störungen zu minimieren und die Konzentration auf die unmittelbare Umgebung und soziale Interaktionen zu verbessern. Ebenso wichtig ist die Etablierung neuer, realer, attraktiver Aktivitäten, um die durch die Sucht entstandene Lücke zu füllen oder damit diese nicht entstehen. Während das Interview sich in erster Linie auf die Behandlung diagnostizierter Internetabhängigkeit konzentriert, lassen sich die Empfehlungen von te Wildt auch präventiv einsetzen, um eine übermäßige Nutzung des Internets und eine daraus resultierende Abhängigkeit zu vermeiden. Diese Ratschläge können als wertvolle Grundlage zur Prävention von Internetabhängigkeit dienen.

Ebenso wichtig ist die Schaffung gesellschaftlicher Strukturen und Angebote, die alternative Freizeitaktivitäten fördern und damit der zunehmenden Nutzung digitaler Medien entgegenwirken. Beispiele hierfür sind das Projekt "KI-Maker Space", das Technik in spannenden Workshops erlebbar macht, oder das Programm "Jugend hackt", das jungen Menschen die Möglichkeit bietet, sich in Bereichen wie Programmierung und Datenvisualisierung zu engagieren und Technologien kritisch zu reflektieren.

Fazit  

Die steigende Medienabhängigkeit bei Kindern und Jugendlichen hat alarmierende Ausmaße erreicht und macht umfangreiche Präventionsmaßnahmen unabdingbar. Dass die neurobiologischen Prozesse von Internetabhängigkeit denen substanzgebundener Süchte gleichen, unterstreicht die Tragweite dieses Problems.

Präventive Maßnahmen sollten früh eingeführt und jungen Menschen der verantwortungsbewusste Umgang mit Online-Medien nahegebracht werden.
Die effektive Bekämpfung von Medien- und Internetabhängigkeit erfordert ein umfassendes Vorgehen. Hier sind Medienpädagogen, Sozialpädagogen, Klassenleitungen, Schulpsychologen und Eltern gleichermaßen gefragt. Nur durch enge Zusammenarbeit, fundierte Aufklärung und das Streben nach einer Balance zwischen digitaler und realer Welt, können wir Fortschritte erzielen.

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